Silvia Posavec

Nur wenige von Frauen gedrehte Filme haben den Europäischen Filmpreis gewonnen.

Drei Frauen gewannen bislang den Preis für den Besten Europäischen Film, den Hauptpreis der Europäischen Filmakademie: Maren Ade für «Toni Erdmann» (2016), Jasmila Žbanić für «Quo Vadis, Aida?» (2021) und Justine Triet für «Anatomie d’une chute» (2023). Die Zahl wirkt fragwürdig niedrig, denn seit der Gründung des  Filmpreises 1988 wurden insgesamt 36 Filme in dieser Kategorie ausgezeichnet. Vergeben wird die Auszeichnung von den Mitgliedern der Europäischen Filmakademie; jährlich wählen professionelle Filmschaffende aus einer Liste von Nominierten. 1990 kam die Schwedin Suzanne Osten mit «Schutzengel» in die engere Auswahl. Ein ganzes Jahrzehnt danach sind  Regisseurinnen schmerzlich abwesend, bis sich wieder  vereinzelt weibliche Positionen unter den Nominierten finden. Seit 2015 war (mit Ausnahme von 2020) mindestens eine Frau vertreten. Mutmassungen über die Gründe der bescheidenen Beteiligung von Regisseurinnen im Wettbewerb um den Besten Europäischen Film sind weniger  interessant als die Betrachtung der Werke, die sich eine Mehrheit der Stimmen der zuletzt über 4600 Mitglieder sichern konnten.

«Toni Erdmann»
Maren Ades (*1976) Tragikomödie erzählt vom Spontanbesuch eines alt-linken deutschen Musiklehrers (Peter Simonischek) bei seiner Tochter Ines (Sandra Hüller), die als erfolgreiche Unternehmensberaterin in Rumänien arbeitet. Als der Vater merkt, dass seine Karrieretochter ihn schnell loswerden will, erfindet er die renitente Kunstfigur Toni Erdmann und erzwingt ihre Aufmerksamkeit. Ades unkonventionelle Darstellung eines Generationenkonflikts vor dem Hintergrund eines neoliberalen Wirtschaftsmilieus feierte seine Weltpremiere 2016 im Hauptwettbewerb des Filmfestivals von Cannes. Die internationale Fachpresse nahm «Toni Erdmann», für den Ade auch das Drehbuch geschrieben hatte, euphorisch auf.  Der deutsche Spiegel sah mit ihm eine «neue Ära» für den deutschen Film eingeleitet. Unter den drei Gewinnerfilmen ist er bislang mit 2’225’843 Kinoeintritten in Europa der erfolgreichste. Maren Ade steht für eine unternehmerische neue Generation, die sich mit eigenen Produktionsfirmen kreative Freiräume schafft. Komplizen Film hat sowohl «Der Wald vor lauter Bäumen» (2004) als auch den mit dem Silbernen Bären ausgezeichneten «Alle Anderen» (2009) herausgebracht. Als Produzentin war Maren Ade an Marie Kreutzers «Corsage» beteiligt, der 2022 für den Besten Europäischen Film nominiert war.

«Quo Vadis, Aida?»
Die bosnische Regisseurin Jasmila Žbanić (*1974) tritt ebenfalls als Autorin und Produzentin auf. «Quo Vadis, Aida?» ist der erste Spielfilm, der sich mit dem Genozid von Srebrenica auseinandersetzt: 1995 ermordete die bosnisch-serbische Armee 8’372 muslimische Zivilisten, die unter dem Schutz der UN standen. Žbanićs Hauptfigur basiert auf dem chronologischen Augenzeugenbericht eines Überlebenden. Die Übersetzerin Aida (Jasna Đuričić) erlebt das Versagen der internationalen Gemeinschaft und die Kriegsverbrechen aus nächster Nähe. Die Tragweite des Dramas, das im Wettbewerb um den Goldenen Löwen in Venedig stand, wurde von der Presse erkannt. Ihre Berichterstattung ging oft über das Filmische hinaus und thematisierte die andauernden Spannungen in der Region. Diese spiegeln sich in der heimischen Rezeption: Im Interview mit einer serbischen Tageszeitung zeigte sich Žbanić besorgt, dass ihr Film dem serbischen Publikum vorenthalten würde. Žbanićs engagierte Filme sind als Werkzeuge der Vergangenheitsbewältigung zu verstehen. Das galt auch für ihr mutiges Erstlingswerk «Grbavica», für den sie 2006 den Goldenen Bären gewann und bereits einmal für den Filmpreis nominiert war.

«Anatomie d’une chute»
Während Jasmila Žbanić anhand des Schicksals einer Familie auf das Leid einer Volksgruppe verweist, dringt die französische Regisseurin Justine Triet (*1976) in die Abgründe eines Autorenpaares ein. Samuel (Samuel Theis) wird tot vor seinem Chalet bei Grenoble vorgefunden. Da ein Unfall  unwahrscheinlich erscheint, wird seine Frau Sandra (Sandra Hüller) des Mordes angeklagt. Sandra Hüller spielt eine emanzipierte und doch auch verletzliche  Frau, die von der Presse mit wenig Sympathie wahrgenommen wurde (wie auch schon Ades Ines in «Toni Erdmann»). Die Regisseurin wird für ihre sensible Schauspielerführung gelobt. «Anatomie d’une chute» feierte, wie auch alle vorherigen Filme von Triet, in Cannes Premiere und gewann den Hauptpreis. Als erste Frau setzte sie sich in einem Jahr sowohl in Cannes als auch bei
den Mitgliedern der Filmakademie durch.

Bester Europäischer Film
Die drei Regisseurinnen, die mit ihren Filmen die Europäische Filmakademie überzeugen konnten, waren keine Unbekannten. Ihre Filme liefen auf A-Festivals, Ade und Žbanić hatten bereits grosse Preise gewonnen. Angesichts ihrer Erfolge, kam die Anerkennung der Akademie verzögert, was dafür spricht, dass sie sich erst etablieren mussten. Ade, Žbanić und Triet sind europäische Autorenfilmerinnen, die einer Generation angehören. In ihren Filmen spiegeln sich die Herausforderungen ihrer Lebensrealität: Kriegserfahrungen, Generationen- und Beziehungskonflikte. Damit sollten sie die gläserne Decke für Folgegenerationen durchbrochen haben. Doch zeigt eine aktuelle Studie des European Audiovisual Observatory, dass der Anteil von Frauen in der europäischen Filmbrache seit 2013 stagniert und sich im Zeitraum bis 2022 auf durchschnittlich 25 Prozent hält. Filmfestivals und Auszeichnungen sind wichtige Instrumente der Filmförderung. Nur wenn Filme von Frauen in Wettbewerben und auf Nominiertenlisten vertreten sind, können sie gesehen werden und auf Augenhöhe mit Werken von männlichen Kollegen konkurrieren. Seit ab 2015 mehr Frauen für den Besten Europäischen Film nominiert wurden, konnten sie auch als Siegerinnen hervorgehen. Mehr Diversität bei den Nominierungen führt zu mutigen Entscheidungen der Mitglieder. Nur so kann der Europäische Filmpreis aus dem Schatten anderer Auszeichnungen treten und sein Potenzial als repräsentative Anerkennung europäischen Filmgemeinschaft ausschöpfen.

 

Image: Justine Triet